Transkulturelle Perspektive: Wie ein chinesisch-deutsches Theaterkollektiv nach Deutschland kam und was es inspiriert, erzählt Regisseur Gebing Tian.
Mitglieder des Künstlerkollektivs
Der chinesische Theaterregisseur Gebing Tian erinnert sich gut an den Moment, als er das Bild zum ersten Mal sah, das zum Ausgangspunkt seiner neuen Theaterperformance werden sollte: „Das Bild war für mich wie ein Pfeil, der vor fast 300 Jahren abgeschossen wurde und uns im Heute trifft“, beschreibt Tian das 265 Jahre alte Rollbild „Machang durchbricht die feindlichen Linien“. Das Kunstwerk war um 1900 infolge des sogenannten Boxerkriegs wahrscheinlich durch koloniale Plünderungen nach Berlin gelangt und gehört inzwischen zur Sammlung des Museums für Asiatische Kunst im Berliner Humboldt Forum. Für Tian wird es zum Ausgangspunkt der Performance „Revolution. Stachel im Fleisch“ seines unabhängigen chinesisch-deutschen Theaterkollektivs „Paper Tiger Theater Studio“. 2023 und Anfang 2024 war die Performance im Humboldt Forum in Berlin zu sehen.
Transkulturelle Begegnung
„Für mich bedeutet das Bild eine frühe Form transkultureller Begegnung“, sagt Gebing Tian. „In diesem kaiserlichen Propagandabild verband der italienische Jesuit und Hofmaler Giuseppe Castiglione die realistische Tradition der europäischen Malerei mit chinesischer Ästhetik.“ Transkulturelle Begegnungen sind ein wesentlicher Aspekt, der das Theaterkollektiv von Beginn an prägte. Schon während seines Studiums an der Zentralen Theaterakademie in Peking Mitte der 1980er-Jahre suchte der heute 61 Jahre alte Tian nach alternativen Darstellungsformen und kam in Kontakt mit der freien Theaterszene. „Anfang der 1990er-Jahre gab es einige unabhängige Theater, die mich sehr interessierten und inspirierten.“ 1997 gründete er sein eigenes – das Paper Tiger Theater Studio Beijing.
Regisseur Gebing Tian
Denkt Tian an diese Zeit zurück, erinnert er sich an eine feierliche Atmosphäre und an Menschen, die aus Bereichen wie Performance-Kunst, Tanz, Musik, Literatur oder Architektur zusammenkamen. „Wir waren ein sich ständig wandelndes Kollektiv. Uns ging es nie darum, künstlerisch Karriere zu machen. Wir wollten eigenständig sein, einander begegnen und einen offenen Raum für unabhängiges Theater schaffen.“ Anfangs bespielte die Gruppe einen eigenen Theaterraum in Peking, später fanden die raren Performances auf offener Straße, in U-Bahn-Stationen, Museen oder Galerien statt.
Chinesisch-deutsche Freundschaft
Das Kapitel der Transkulturalität öffnete sich für Paper Tiger durch eine persönliche Begegnung. Tian erinnert sich: „1996 lernte ich den deutschen Choreografen und Regisseur Martin Gruber kennen, der damals Gastdozent an der Zentralen Theaterakademie war. Obwohl wir uns nur durch eine französisch-chinesische Dolmetscherin verständigen konnten, merkten wir schnell, wie ähnlich wir dachten und dass wir zusammenarbeiten wollten.“ Mit einem Team deutscher Künstlerinnen und Künstler realisierten Tian und Gruber 1997 das transkulturelle Theaterprojekt „Beijing Blue“, in dem es um die Beziehung zwischen östlichen und westlichen Kulturen ging.
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Es folgten zahlreiche Auftritte auf internationalen Theaterfestivals und Kooperationen mit Theatern in Berlin, München und Hamburg. Ab 2010 konzentrierte sich Paper Tiger auf die transkulturelle Theaterpraxis. 2019 verlegte die Gruppe ihren Sitz nach Berlin. Tian sagt: „Für uns war klar, um authentisch über westliche Erfahrungen sprechen zu können, müssen wir uns auch im Westen befinden.“ Im Lauf der Jahre kamen Menschen aus 14 Nationen, etwa aus Israel, Japan, der Ukraine, Russland, Indien oder den Philippinen im Paper Tiger Theater Studio zusammen. „Der internationale Austausch bereicherte unsere Arbeit sehr und ermöglichte neue Blickwinkel“, sagt Tian. Auch für das deutsche Publikum: „Unsere nicht-narrative Erzählweise ist für manche Zuschauer gewöhnungsbedürftig, andere reagieren begeistert.“
Gemeinsam Grenzen überbrücken
In seinen Stücken beleuchtet Tian historische Themen wie Kolonialismus, zeitgenössische, universelle Gesellschaftsfragen oder die „brutale Absurdität der Alltagsrealität“. Dabei immer im Fokus: der transkulturelle Perspektivwechsel. Für die Performance „Revolution. Stachel im Fleisch“ entwickelten sehr unterschiedliche Personen unter der Leitung von Gebing Tian gemeinsam ein assoziatives Panorama: Tänzerinnen und Tänzer, Performerinnen und Performer, ein Skateboarder, eine Percussionistin, eine DJane sowie ein Zeitzeuge der China-Reise des DDR-Staats- und Parteichefs Erich Honeckers im Jahr 1986.
Im Stück „500 Meter – Kafka, Große Mauer, irreale Welt“ am Hamburger Thalia Theater (2017), das auf Franz Kafkas Text „Beim Bau der Chinesischen Mauer“ basiert, erkundete Tian mit europäischem Blick die chinesische Gegenwart. In „Totally Happy“ an den Münchener Kammerspielen (2014) befasste er sich mit Individuum und Masse.
Unser Theater will ein Ort sein, an dem gemeinsam Grenzen überbrückt und aufgebrochen werden.
Gebing Tian, Regisseur
Szene aus „Revolution. Stachel im Fleisch“
Bis heute sind Freiheit und Gemeinschaft für Tian und das Paper Tiger Theater Studio elementar. „Unser Theater will ein Ort sein, an dem gemeinsam Grenzen überbrückt und aufgebrochen werden, an dem unaufhörlich Neues passiert und daraus etwas Freies entsteht.“ Seine nächste Performance plant er bereits: der letzte Teil der Kafka-Trilogie über „Krieg und Zukunft“, aufgeführt in einem Restaurant im Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg.